Vielleicht kennst du den Begriff „mi-mi-mi“ nicht, aber du begegnest ihm sicher regelmäßig (und vielleicht bist du selbst manchmal so). Das ist, wenn du einer anderen Person ihr unterdrückendes oder übergriffiges Verhalten aufzeigst und die Person daraufhin die Rollen umkehrt und sich beschwert, dass ja „gar nichts mehr gesagt oder gemacht werden dürfe“. Während das eigene übergriffige Verhalten verharmlost wird, verlagert sich Schuld auf die Person die das Verhalten kritisiert, indem gesagt wird, diese sei entweder zu sensibel oder sogar „hysterisch“. Kleine Anmerkung: Falls du das Wort „hysterisch“ verwendest – wisse, dass es sexistisch ist und aus deinem Wortschatz verschwinden sollte!
Solche Reaktionen führen schließlich dazu, dass die Erfahrungen der Person unsichtbar zu machen, die tatsächlich von der Unterdrückung betroffen ist. Wenn dir jemensch sagt, dass ein bestimmtes Verhalten oder eine Aussage von dir verletzend oder problematisch ist, dann nimm das ernst und vertraue darauf, auch wenn du es anders siehst oder deine Absichten gut waren. Gute Absichten bewahren uns nicht davor, anderen gegenüber übergriffig zu handeln.
Das „mi-mi-mi“-Bingo
Um das Konzept besser zu verstehen, findest du eine kleine Auswahl an mi mi mi-Sätzen:
- „Chill mal, es war doch nur ein Scherz”
- „Man kann nichts mehr sagen”
- „Früher war alles besser”
- „Nicht alle Männer sind so”
- „Es ist schwer, ein Mann zu sein, oder hetero (oder irgendeine andere dominante Gruppe).”
- „Warum brauchen LGBTQIA+ (oder irgendeine andere unterdrückte Gruppe) besondere Rechte.”
Unsichtbar gemachte und weitgehend unterschätzte Unterdrückung
Systemische Unterdrückungen sind auas Prinzip oft unsichtbar und diffus. Wir sind so sehr an die Funktionsweise der Gesellschaft gewöhnt, dass wir die meisten Machtverhältnisse gar nicht wahrnehmen. Dagegen fällt uns sofort auf, wenn etwas nicht den Normen entspricht. Personen, die Minderheitengruppen angehören, machen dagegen andere Erfahrungen in der Gesellschaft, weil sie häufiger mit Ausschluss oder Diskriminierung konfrontiert werden.
Beispielsweise bemerken nicht-rassifizierte Personen in der Regel nicht, wenn sie sich in Gruppen befinden, die nahezu ausschließlich aus weißen Menschen bestehen – so alltäglich ist das für sie. Sobald jedoch eine Gruppe überwiegend aus rassifizierten Personen besteht, wird ihnen das sofort auffallen.
Einige Maßnahmen zielen darauf ab, systemische Unterdrückung abzubauen. Während Unterdrückung unsichtbar und weitgehend unterschätzt wird, sind diese Maßnahmen freiwillig und sichtbar. Zwar reichen sie bei weitem nicht aus, um die bestehenden Ungleichheiten vollständig zu beseitigen, doch bieten sie einen Ansatzpunkt um Ungleichheit zu thematisieren, vor allem, wenn mensch selbst Unterdrückungen nicht wahrnimmt oder unterschätzt. Diese unterschiedliche Wahrnehmung kann dazu führen, dass manche Menschen denken, solche Themen würden zu oft angesprochen oder die von Unterdrückung Betroffenen würden gegenüber anderen Personengruppen bevorzugt, zum Beispiel durch Quotenregelungen oder speziell eingerichtete Räume für FLINTA* Personen.
Manche Menschen beschweren sich beispielsweise über die Höhe von Unterhaltszahlungen, vergessen dabei jedoch, dass diese Gelder dazu dienen, den Einkommensverlust derjenigen auszugleichen, die ihre bezahlte Arbeit ganz oder teilweise aufgegeben haben, um sich um ihre Kinder zu kümmern – meist Frauen*. Wenn der/die Partner*in weiterhin berufstätig sein konnte, dann nur, weil die andere Person die Kinderbetreuung übernommen hat. Auf der einen Seite steht also ein Einkommensverlust der Person, die ihre bezahlte Arbeit reduziert oder aufgegeben hat, während das Einkommen des Partners oder der Partnerin steigt. Auf der anderen Seite gibt es die finanzielle Kompensation: die Unterhaltszahlungen. Die erste Seite – der Einkommensverlust – ist unsichtbar und wird stark unterschätzt, während die zweite – die Unterhaltszahlungen – messbar und gut sichtbar ist. Natürlich fällt vor allem Letzteres auf. Zahlreiche Studien zeigen jedoch, dass Unterhaltszahlungen nur einen Teil des finanziellen Verlusts ausgleichen. Insgesamt führt die Ehe zwischen einer Frau und einem Mann häufig zu einer finanziellen Benachteiligung der Frau. Trotzdem hält sich in der gesellschaftlichen Vorstellung hartnäckig das Gegenteil.
Manche Menschen sprechen sogar von „umgekehrtem Sexismus“ oder „umgekehrtem Rassismus“, obwohl diese Unterdrückungen systemisch sind und sich prinzipiell nicht umkehren lassen. Mehr Informationen dazu findet ihr im Artikel über Sexismus. Und bis wir einen Artikel darüber schreiben, warum warum es keinen Rassismus gegen Weiße gibt (in Verbindung mit der zukünftigen Karte zum Thema Rassismus), könnt ihr euch dieses Video des australischen Komikers Aamer Rahman ansehen oder das Interaktive Hörbuch von Tupoka Ogette “Exit Racism – rassismuskritisch denken lernen” anhören.
Ein geteilter Trend?
Wenn das Archetyp des „mi-mi-mi“ ein cis-Mann, der in der Regel hetero und weiß ist, gilt dieses Phänomen dennoch für alle Formen von Unterdrückung und betrifft bei weitem nicht nur Männer oder und Themen wie Sexismus oder Rassismus. Weitere Beispiele dafür sind:
- Eine weiße Frau, die sich darüber beschwert, dass die kleine Meerjungfrau Schwarz ist.
- Eine rassifizierte cis-heterosexuelle Person, die sich darüber beschwert, dass es „zu viele queere Menschen“ in den Medien gibt (die berühmte „LGBT-Lobby“!).
- Eine nicht-behinderte Person, die sich über die Zugangsstandards für Menschen mit Behinderung beschweren.
Unabhängig davon, welche Unterdrückung du sonst noch erlebst, kannst du dich auch in der Position des/der Unterdrückenden befinden. Wenn dich ein*e Betroffene*r auf eine unangemessene Äußerung oder ein unangemessenes Verhalten hinweist, das du gerade erlebt hast, solltest du vor deiner Antwort ruhig deine Privilegien reflektieren.
Not all men aber trotzdem a lot!
Die Mehrheit der Menschen nimmt sich selbst als gut und wohlwollend wahr. Während mensch die Machtverhältnisse, die die unsere Gesellschaft strukturieren, wahrnehmen kann, ist es viel schwieriger, sich selbst als Unterdrücker*in zu begreifen. Wenn wir mit unserem unterdrückerischen Verhalten oder unsere eigene Position in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen hingewiesen werden, entsteht oft eine starke kognitive Dissonanz – ein Schutzmechanismus, der die Fakten und die Realität verzerrt, um unser positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Dieser Mechanismus zeigt sich zum Beispiel bei Aussagen wie „Not all men“ oder „Nicht alle Menschen“.
Wenn Menschen über die Unterdrückung sprechen, der sie ausgesetzt sind, ist es ein typisches „mi-mi-mi“-Verhalten, darauf mit Worten wie: „Aber ich tue das doch nicht“ zu reagieren. Damit wird die Aufmerksamkeit auf die eigene Person gelenkt, obwohl es eigentlich um systemische und strukturelle Mechanismen geht, die viele Menschen in der Gesellschaft betreffen.
Nicht alle Menschen reagieren auf gesellschaftliche Konditionierungen gleichermaßen, und wir übernehmen nicht automatisch alle problematischen Verhaltensweisen (auf die wir hier aufmerksam machen). Dennoch sind wir nicht völlig immun gegen diese Einflüsse. Nur weil die Mehrheit der cis-heterosexuellen Männer keine Frauen oder queere Menschen auf der Straße belästigen, bedeutet das nicht, dass sie sexistischen Gedankengüter verinnerlicht haben und bewusst oder unbewusst weibliche Körper durch den male gaze sexualisieren. Und nur weil ein Mann seinen Anteil an der Haushaltslast übernimmt, heißt das noch lange nicht, dass er das auch für die emotionale und die mentale Last tut. Selbst wenn wir uns bemühen, uns zu verbessern, hat jede*r von uns blinde Flecken und setzt Mechanismen der Unterdrückung weiterhin um.
Natürlich lässt sich diese Argumentation auch auf alle anderen Formen der Unterdrückung und Diskriminierung übertragen.
Grenzen ziehen
In ihrem Vortrag über die „Good Men“ entwickelt Hannah Gadsby das Konzept der Grenze, das hier auf Sexismus angewendet wird, das aber auch auf alle Formen systemischer Unterdrückung zutrifft. Es ist die Grenze, die wir ziehen, um auf der einen Seite die „guten“ Menschen und auf der anderen die „schlechten“ Menschen einzuordnen. Diese Grenze stellt uns immer auf die „richtige“ Seite, denn wir verschieben sie nach hinten, sobald unser Verhalten als “schlecht” wahrgenommen wird. Wir haben nämlich die natürliche Tendenz, uns selbst als gute Menschen zu sehen – und genauso diejenigen, die uns nahestehen oder die wir schätzen.
„Und rate mal was? Alle Menschen halten sich für gut. Wir müssen darüber reden, denn rate mal, was dabei herauskommt, wenn nur gute Menschen diese Linie ziehen? Das führt zu dieser Welt. Eine Welt voller guter Menschen, die sehr schlechte Dinge tun und immer noch tief in ihrem Herzen glauben, dass sie gut sind, weil sie die Grenze nicht überschritten haben, weil sie diese zu ihrem Vorteil verschieben.“




